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December 18, 2005

Licht

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December 14, 2005

Russische Pipeline

Beruhigend und adventlich fühlt es sich an, im ICE zu sitzen, vor mich hin zu dämmern, während zwei Sitzreihen weiter vorn ein Russe im aufgeräumten Bariton über die Welt räsonniert.

Jemand, der in der DDR aufgewachsen ist, mag anderes empfinden. Für mich ist der Klang dieser wunderbaren Sprache mit einer winterlichen Kindheitserinnerung verbunden: Anfang der 60er Jahre pflegte mein Bruder Ulrich den russischen Chor, in dem er während seiner Studienzeit in Freiburg sang, zu einem Adventsbesuch nach Hause mitzubringen. Die kamen dann in einem großen Bus nach Norddeutschland - schon das eine Sensation für den kleinen Bruder, besonders, wenn der Fahrer ihn zu einer kleinen Spritztour im leeren Bus einlud und ihm das gewaltige Fahrzeug erklärte. Das hatte dann unmittelbare Auswirkungen auf den gerade aktuellen Berufswunsch.

Dann das Konzert des Chores in der festlich beleuchteten Wohltorfer Kirche, die imposanten geistlichen Gesänge, der anschließende Umtrunk aller Sängerinnen und Sänger in unserem Haus. Der würdevolle Chorleiter Alexander Kresling entlohnte meine Familie für ihre Gastfreundschaft mit allerlei Anekdoten aus dem vorrevolutionären Russland seiner Kindheit. Auch bei dieser Gelegenheit wurde nochmal gesungen, Weltliches jetzt, wenn ich mich recht erinnere.

Der große Bruder lernte dann ein paar Jahre später seine künftige Frau in Irland kennen, in den grünen Wicklow Mountains südlich von Dublin. Wieder war das 'alte' Russland im Spiel, denn beide verbrachten ihre Ferien beim Count Kutusov-Tolstoi, einem Nachfahren jenes berühmten Generals, der Napoleon das Leben schwer machte, verwandt auch mit dem großen Romancier Leo Tolstoi.

Kutusov-Tolstoi betrieb dort im Exil ein Gästehaus, eine Art Sprachschule für europäische Jugendliche. Während der Mahlzeiten konnten sich die Besucher für einen französischen, einen englischen, einen russischen oder einen deutschen Tisch entscheiden. Der Count und seine Frau sprachen all diese Sprachen fließend. Sie sorgten für gepflegte Konversation und stifteten Ehen, während die irische Haushälterin - die einzige, die dem Vernehmen nach noch heute dort lebt - für das leibliche Wohl der Schar sorgte.

Count Kutusov-Tolstoi erlebte ich sehr viel später noch einmal persönlich, nach dem Abitur, im ersten Jahr meines Führerscheins, als ich zum letzten Mal mit meinen Eltern eine Reise unternahm - ein Abschiedstour, die uns nach Südengland, Wales und Irland führte, und die für mich in vieler Hinsicht die melancholische Stimmung von Sebalds ost-englischem Reisebericht "Die Ringe des Saturn" vorwegnahm.

Wir machten Halt beim Count, der nach dem Tod seiner Frau endgültig dem Alkohol verfallen zu sein schien, aber mit einer Würde, wie sie wohl nur Russen hinbekommen. Mit seinen über 80 Jahren glich er einem imposanten Walroß, mit Schnauzbart und pechschwarz gefärbtem Haar. Er empfing uns in jovialer Stimmung und unterhielt uns mit unglaublichen Geschichten aus der europäischen Vergangenheit - bis uns die Haushälterin signalisierte, dass die Audienz nun vorbei sei und wir dem alten Recken seine verdiente Ruhe gönnen sollten.

Agreeing with Herczeg.

December 01, 2005

Hamburg 1996

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Dieser abendliche Blick aus meinem (damaligen) Arbeitszimmer zierte meine erste Homepage ab 1996. Goodbye Hamburg!

A Bumpy Ride

"Salon" wird 10! Clubvolt gratuliert herzlich und erinnert sich voll Wehmut an das zweite online-journalistische Textstückchen, das wir je geschrieben haben, und das uns damals merkwürdiger Weise die Türen zu Spiegel Online endgültig geöffnet hat. Hier exklusiv dokumentiert.

"Salon" - der "New Yorker" des World Wide Web

von Lorenz Lorenz-Meyer

Die Korken knallen, der Champagner perlt in den Gläsern, Kollegen gratulieren überschwenglich. Das Web hat neuen kulturellen Glanz bekommen. Seit einigen Wochen läuft der Test, seit Montag der letzten Woche ist es auf Sendung: das neue Online-Ereignis "Salon", nach eigener Darstellung "eine interaktive Zeitschrift über Bücher, Künste und Ideen". Das Impressum liest sich wie ein Auszug aus dem "Who is Who" des amerikanischen Kulturjournalismus, das grafische Design, sparsam und elegant, ist preisverdächtig, die Beiträge sind handverlesen. Ein eindrucksvolles Debut.

Anders als bei den verwandten Webpublikationen "Hot Wired" oder "Utne Lens", die Ableger großer, etablierter Print-Zeitschriften sind, handelt es sich bei "Salon" um ein reines Online-Produkt, um eine Zeitschrift, die nur im Web gelesen werden kann. Dennoch ist der Zugang bis auf weiteres kostenlos. Man hat eine Reihe zahlungskräftiger Sponsoren gefunden: Zwei große Unternehmen aus der Computerbranche und eine nationale Buchhandelskette sorgen dafür, daß das editorische Konzept der Zeitschrift - gute Honorare für hervorragende Inhalte bei freiem Zugang - nicht von vornherein zum Scheitern verurteilt ist. Das funktioniert natürlich nur, weil man sich die teure Herstellung eines Printprodukts ersparen kann. Zunächst ist eine zweiwöchentliche Erscheinungsweise geplant, ab Januar soll der "Salon" wöchentlich erscheinen.

Die erste Ausgabe lockt den Leser unter anderem mit einem Interview mit der Bestsellerautorin Amy Tan, mit einer Kurzgeschichte des schwulen Stadtschreibers von San Francisco Armistead Maupin über seinen Pudel und den Schatten des Todes, mit einem Gespräch mit dem Spionagethriller-Autoren John le Carré über das Leben nach dem Kalten Krieg und den Niedergang des Journalismus, sowie mit einem pikanten Kannibalismus-Report des Globetrotters und Kultjournalisten Douglas Cruickshank. Camille Paglia bekommt wieder einmal Gelegenheit für eine medienwirksame Selbstdarstellung, und auch Internet-Guru Howard Rheingold ist mit von der Partie.

Einer der Höhepunkte der ersten Ausgabe ist die feinsinnige Nabokov-Studie der Romanautorin Mary Gaitskill. Dieser Essay führt auf besonders eindrucksvolle Weise die Möglichkeiten des neuen Mediums vor: Frau Gaitskill erläutert die Subtilitäten der Nabokovschen Prosa, und in behutsam plazierten Hypertext-Links wird der Leser an Textstellen Nabokovs herangeführt, die die Ausführungen der Autorin belegen und illustrieren. Das geschieht kurzweilig und vollkommen unakademisch, und die stilistische Rafinesse des Essays verbindet sich ganz unverkrampft mit der stilistischen Rafinesse seines Gegenstands.

Es wird allerdings nicht jedem Leser gefallen, wenn er am Ende einer tiefgründigen Literaturkritik mit der Aufforderung konfrontiert wird, das besprochene Buch nun online im Versand des Sponsors zu bestellen. Aber das ist wohl der Preis, den man für die kostenlose Zugänglichkeit exzellenter Inhalte zu zahlen hat.

Für den Austausch mit den Lesern plant das "Salon"-Team, sich der besonderen technischen Möglichkeiten des Internets zu bedienen. Es wird moderierte Diskussionsforen zu den verschiedenen Themenbereichen geben. Der gedankliche Austausch der Leser untereinander und mit der Redaktion soll dazu beitragen, aus der Zeitschrift im eigentlichen Sinne einen "Salon" zu machen: ein Forum, in dem nicht nur konsumiert, sondern diskutiert, nachgedacht und Klatsch ausgetauscht wird.

Die hochkarätige Journalisten-Runde in der "Media"-Konferenz der kalifornischen virtuellen Gemeinschaft "The WELL" hat den neuen Stern am amerikanischen Medienhimmel gebührend gefeiert, in stolzer Anwesenheit eines nicht geringen Teils der "Salon"-Redaktion. Eine Frage blieb den Experten von "The WELL" jedoch unbeantwortet: "Wie nimmt man ein so schönes Produkt zum Lesen mit in die Badewanne?"

Erschienen bei Spiegel Online, Anfang Dezember 1995. Genaues Erscheinungsdatum nicht rekonstruierbar

Hier werden Sie gewartet!

Bastian Sick hat sich in der jüngsten "Zwiebelfisch"-Kolumne der kreativen Blüten in den Lautsprecherdurchsagen der Deutschen Bahn angenommen: "Unsinn mit Ansage". Gelegenheit für einen Leserbrief:

"Lieber Bastian,

als Dauerpendler danke ich dir ganz besonders für deine Kolumne zu den Ansagen der Bahn. Ich habe noch ein paar Ergänzungen.

Vieles, worüber man sich ärgert, ist ja eher inhaltlicher als sprachlicher Natur. Etwa wenn die zweite Fahrkartenkontrolle auf längeren Zugfahrten grundsätzlich mit dem "Personalwechsel" begründet wird. Jeder bessere Beobachter weiß, dass das Personal hier in den meisten Fällen nur vom vorderen zum hinteren Zugteil wechselt, und umgekehrt, vor allem um sogenannte "Graufahrer" aufzuspüren, die sich mit Kurzstreckentickets längere Fahrten zu erschleichen versuchen.

Oder die Karrieren, die Ausreden für unplanmäßigen Aufenthalt oder Verspätung im Laufe einer Zugfahrt durchmachen. Dort wird in den meisten Fällen schlicht gelogen, und diese Lügen werden kaum, wenn überhaupt, koordiniert, so dass man die wundersamsten Entwicklungen zu hören kriegt, vom Stellwerkproblem über den Weichenschaden bis hin zum Triebwerksdefekt. Der Höhepunkt war die finale Begründung "wegen eines Vogels, der ins Fahrgestell geraten ist", für eine langsam kumulierte Verspätung von insgesamt über einer Stunde auf der IC-Strecke von Köln nach Hamburg. Da konnte man das Augenzwinkern des humorvollen Zugchefs quasi mithören.

Ein anderes Mal lag, nun aber wirklich und ungelogen, ich habe es mit eigenen Augen gesehen, ein halbes Schwein auf den Gleisen, die vordere Hälfte, komplett mit Kopf und Vorderläufen, säuberlich in der Mitte getrennt. Frag nicht, wie es dazu gekommen sein kann. Das ganze sah eher unblutig aus, ich vermute also, die Halbierung war nicht auf einen Zusammenstoß mit einem Zug der Deutschen Bahn zurückzuführen.

Als ich auf dem Rückweg von meinem Ausflugsziel wenig später dieselbe Stelle passieren wollte, war der Gleisabschnitt inzwischen gesperrt. Hier hat man sich dann in den Lautsprecherdurchsagen langsam an die wahre Geschichte herangearbeitet - ohne sie jedoch je zu erreichen. Von "Bauarbeiten" war zunächst die Rede, neben den üblichen "Stellwerkproblemen", dann immerhin konnte man sich zu "Räumungsarbeiten" durchringen, und schließlich - oh Kühnheit! - erzählte man, ein unglücklicher Hund sei auf die Gleise geraten.

Aber viele Patzer sind eben doch sprachlicher Natur. Zum Beispiel eine - wenn ich das richtig sehe - Neuschöpfung der letzten Monate: das Weglassen der präpositionalen Kopplung in Satzgefügen wie: "In wenigen Minuten erreichen wir Göttingen. Sie haben Anschluss ICE 345 nach Berlin Ostbahnhof um 19:34 aus Gleis 7. Ferner haben Sie Anschluss Regionalbahn nach Hannover um 19:42 aus Gleis 102." Das hört man mittlerweile so regelmäßig, dass ich sicher bin, es gibt eine entsprechende Dienstanweisung.

Ein weiterer Klassiker ist der knapp fehlgeschlagene Hinweis auf die "Bordgastronomie, wo Sie unser freundliches Service-Team gerne erwartet". Das zumindest, muss man sagen, ist partiell wahr, denn in vielen Fällen wartet das Service-Team lieber, als dass es einen bedient.

All diese schief geschliffenen Phrasen sind ja nicht auf den Mist des armen Service-Personals gewachsen, das Tag für Tag gezwungen ist, den verärgerten Fahrgästen entgegenzutreten. Es muss vielmehr irgendwo ein zentrales Team von Sprachkünstlern geben, das diesen Phrasenbestand entwickelt und pflegt, und irgendeine Instanz im gehobenen Management, die diesem Team die strategische Richtung vorgibt ("Lügen Sie, meine Herrschaften, lügen Sie! Die Welt will betrogen werden! Der Kunde ist König!")

Diese Leute gehören zu dem erlauchten und gar nicht einmal kleinen Personenkreis, für den ich mir die Wiedereinführung von Pranger und Prügelstrafe wünsche.

Sei ganz lieb gegrüßt, von

Deinem Lorenz."