INTERVIEW

"Und nun haben wir also das Internet!" - Interview mit dem Kommunikationswissenschaftler Herbert Schiller von der Universität von San Diego (USA)

Herbert Schiller, emeritierter Professor für Kommunikationswissenschaft an der Universität von San Diego, ist einer der profiliertesten Kritiker der amerikanischen Informationsindustrie. Seine Bücher zählen neben den einschlägigen Werken von Noam Chomsky zur Pflichtlektüre kritischer Soziologen und Politikwissenschaftler in den USA. In ihren Vorträgen auf der Münchner Konferenz "Internet und Politik" dämpften Herbert Schiller und der Politikwissenschaftler Benjamin Barber den voreiligen Enthusiasmus über eine Zukunft des Internet als Plattform demokratischer Willensbildung und Entscheidungsfindung.

SPIEGEL Online: Herr Professor Schiller, Sie behaupten, es gäbe zwei Visionen hinsichtlich der Informationsgesellschaft, die miteinander unvereinbar seien: Einerseits das sehr positive Bild des Internet als eines sozialen Mediums, das Individuen, kleinen Gruppen und kleinen Unternehmen enorme Möglichkeiten der Partizipation bietet. Andererseits die "wirtschaftliche Vision", nach der das Internet nur ein Instrument für groß angelegte kommerzielle Aktivitäten und Marketing ist. Sehen Sie nicht die Chance, daß diese beiden Bereiche friedlich zusammenleben könnten, ohne sich gegenseitig auszuschließen?

Schiller: Wir haben die Erfahrung gemacht - zumindest in den USA, aber ich glaube, dasselbe ist auch in Europa erkennbar - daß sie nicht miteinander kompatibel sind. In den USA, die hier das extreme Modell sind, werden die sozialen Bereiche von der kommerziellen Dynamik verdrängt. Bei dieser Entwicklung gibt es keine Möglichkeit zum Kompromiß.

Wir konnten das ja bereits beim Rundfunk beobachten. Ursprünglich gab es beim Radio einige sehr spannende potentielle Anwendungsbereiche. Später beim Fernsehen hat es solche Möglichkeiten nie gegeben, weil das Fernsehen praktisch von Anfang an von denselben Mächten kontrolliert wurde, die bereits den Rundfunk übernommen hatten. Ein aktuelleres Beispiel sind natürlich die Kabeldienste. Vom Kabelfernsehen hat man sich eine ungeheuer befreiende Wirkung versprochen, wegen der vielen Kanäle und der vielfältigen Möglichkeiten einer lokalen Ausrichtung. Heute sind die Kabelsysteme im ganzen Land aufgekauft und zusammenschlossen worden, und es gibt nur noch drei oder vier Hauptbetreiber. Die Kabeldienste werden zwar auf lokaler Ebene betrieben, aber auf nationaler Ebene kontrolliert. Es gibt also im Kabelnetz die gleiche Fusion, Konzentration und zentrale Kontrolle.

Und nun haben wir also das Internet. Und wieder hört man genau die gleiche Rhetorik. Ich greife nicht die Technik an sich an. Aber man muß erkennen, was innerhalb des bestehenden Systems vorgeht. In den Vereinigten Staaten haben wir heute einen so konzentrierten und monopolistischen Kapitalismus! Und er ist gerade dabei, im großen Stil in den Bereich der Kulturindustrie vorzustoßen. Es fällt mir schwer zu glauben, daß es diesen anderen, neueren Technologien gelingen wird, sich in dieser Umgebung frei zu entfalten und autonom und unabhängig zu bleiben.

SPIEGEL Online: Befürworter des Internet würden sagen, daß dieses neue Medium etwas noch nie Dagewesenes beinhaltet, nämlich die Interaktivität verbunden mit einer sehr niedrigen Teilnahmeschwelle.

Schiller: Das würde man gerne glauben. Aber dann schaut man sich die gesellschaftliche Realität an. Selbst wenn ein, zwei Millionen Menschen eine eigene Webseite unterhalten, bleibt eine Frage offen - und das ist im gesamten Bereich der kulturellen Information die entscheidende Frage: Wie erreicht man ein wirklich breites Publikum? Das ist der Bereich, den diese riesigen Konzerne vereinnahmt haben.

Nehmen Sie zum Beispiel die Filmindustrie: Warum sind amerikanische Filme so weit verbreitet und angeblich so beliebt? Es gibt sicher viele Einflüsse, aber ein Grund dafür sind diese wahnsinnigen Werbekampagnen. Ein großer Film kostet in den Staaten siebzig oder achtzig Millionen Dollar. Und noch einmal der gleiche Betrag wird für Werbung ausgegeben. Die Menschen werden also sofort auf die Filme aufmerksam gemacht und in dieses System hineingezogen. Natürlich gibt es auch viele unabhängige Filmschaffende. Aber im Grunde genommen bleiben sie am Rande des Geschehens.

SPIEGEL Online: Wird es für das Internet - wie schon beim Rundfunk - ein Lizenzsystem geben, das als Schranke fungiert und Einzelne ausschließt, die gerne teilnehmen würden?

Schiller: Nein. Das wäre eine ziemlich katastrophale Entwicklung. Einer der großen Reize und Vorzüge des Internet ist der offene Zugang und der - wenigstens bislang - nicht regulierte Betrieb. Ich behaupte nicht, daß eine staatliche Kontrolle stattfinden wird, auch wenn einige so etwas gerne hätten. Wir haben ja hier zu Beginn der Tagung gehört, daß der bayerische Ministerpräsident das sehr gerne machen würde. Was ich jedoch befürchte, ist eine viel weniger sichtbare, sozusagen verstohlene, Einflußnahme: die stillschweigende Übernahme des Netzes durch den Kommerz und eine Veränderung seiner gesamten Ausrichtung.

Einer der entscheidenden Trends, die wir schon seit einigen Jahrzehnten in den Vereinigten Staaten beobachten, ist die Kommerzialisierung der Information. Der Zugriff auf Informationen wird zunehmend auf eine entgeltliche Basis gestellt, organisiert von großen Informationskonzernen. Sie glauben doch nicht im Ernst, daß die jetzt ins Internet gehen und solche Informationen umsonst zur Verfügung stellen! Das wird auf gar keine Fall passieren!

Ich fühle mich nicht besonders wohl in der Rolle eines Neinsagers. Aber ich glaube, wir müssen aufpassen, daß wir keine Antworten oder Heilmittel oder Lösungen übernehmen, die uns nirgendwohin hinführen. In den USA hoffen die Menschen immer auf einen technologischen Ausweg aus dem Dilemma: "Die Technik wird eine Lösung finden." Meines Erachtens kann so gut wie keine der sozialen Krisen im System der heutigen Vereinigten Staaten - und es gibt viele davon - allein durch Technologie gelöst werden.

Wenn Clinton zum Beispiel von Plänen spricht, jedes Klassenzimmer in öffentlichen Schulen mit dem Internet zu verbinden - was soll das? Unzählige Schulen haben undichte Dächer, sie haben keine Bücher für ihre Schüler. So sieht die heutige Realität aus. Die Schulen leiden an akuter Geldnot. Und jetzt will Clinton sie ans Internet anschließen!

Ich sage also: Ja, begrüßen wir die neue Technologie. Aber wir sollten ihr keine Fähigkeiten zusprechen, die sie nicht erbringen kann, und dadurch versäumen, denjenigen Dingen unsere Aufmerksamkeit zu schenken und diejenigen Maßnahmen zu ergreifen, die unsere Situation wirklich erfordert.

SPIEGEL Online: Stichwort Information als kommerzielle Ware. Es gibt da diese, ursprünglich europäische, Idee, daß es für Inhalte von Datenbanken eine neue Art von geistigem Eigentum geben sollte. Diese Idee, die inzwischen in die europäische Gesetzgebung eingeflossen ist, wurde auch in den Vereinigten Staaten propagiert. Commissioner Bruce Lehman vom amerikanischen Patentamt hat versucht, sie auch in den USA gesetzlich zu verankern. Er ist damit gescheitert ...

Schiller: ... aber nur vorläufig! Das paßt doch sehr gut zu dem, was ich gesagt habe: Es gibt eine sehr intensive Kampagne, Information zu einer Ware zu machen. Und ein Bereich, in dem man das sehr gut beobachten kann, ist der Aufbau und die Organisation von Datenbanken.

SPIEGEL Online: Aber gerade in den USA gibt es einen erheblichen Widerstand gegen eine Radikalisierung des Urheberrechts und gegen den Plan, den Begriff des geistigen Eigentums auf Fakten, auf Datenbankinhalte auszuweiten!

Schiller: Oh ja. Natürlich gibt es Widerstand. Aber der Widerstand ist leider nicht von dem Ausmaß, der meines Erachtens nötig wäre, um einen positiven Ausgang zu gewährleisten. Es gibt beispielsweise den Widerstand der "American Library Association". Das ist eine großartige Organisation. Ihr Prinzip lautet: "Information sollte kostenlos sein und an jedermann verteilt werden". Aber der Verband sieht sich immer weniger in der Lage, das aufrechtzuerhalten. Selbst die Bibliotheken müssen, wo sie auf elektronische Systeme umsteigen, Gebühren erheben. Das ist ein eklatanter Verstoß gegen die Grundprinzipien der Organisation!

Und dann gibt es natürlich auch noch andere Gruppen, die Widerstand leisten, zum Beispiel Lehrer- und Verbraucherorganisationen. Diese Gruppierungen schaffen es manchmal, die Entwicklungen zeitweilig aufzuhalten und zu verzögern. Aber sie haben weder die Mittel noch die Möglichkeiten, eine Art von Widerstand zu organisieren, die diesen anderen Kräften letztlich widerstehen könnte.

Ein Beispiel: Als vor einigen Jahren die "National Information Infrastructure", die sogenannte Datenautobahn, erstmals ins Gespräch kam, vertrat Al Gore - damals Senator, heute Vizepräsident - die Ansicht, daß sie ein öffentliches System sein sollte, eine öffentliche Einrichtung ganz ähnlich den großen Autobahnen, die Ende des Zweiten Weltkrieges gebaut wurden - aus öffentlichen Mitteln finanzierte Straßen, kostenlos, ohne Maut-Gebühren. Das hat damals natürlich sehr dazu beigetragen, viele Gebiete und Teile der Bevölkerung zu erschließen. Es war im wesentlichen eine soziale, öffentliche Maßnahme. Gore sagte also: Gut, wir werden jetzt eine Datenautobahn bekommen, und wir machen das auf die gleiche Art und Weise.

So hat er es am Anfang dargestellt. Dann fingen diese anderen Kräfte an, Druck auszuüben. Und als das Projekt der "National Information Infrastructure" schließlich im Herbst 1993 offiziell vorgestellt wurde, hieß es ganz kategorisch, das System müsse von der Privatwirtschaft errichtet werden. Das war eine vollkommene Kehrtwende! Ich glaube, das zeigt, wovon ich rede. Es gab gute Absichten, und es gab die nötige Einsicht; und doch haben es die wirtschaftlichen Mächte in ihrem Sinne umgekehrt.

SPIEGEL Online: Welche Beziehung sehen Sie zwischen dieser Machtergreifung durch die Wirtschaft und dem, was Sie als "Verarmung des öffentlichen Sektors" bezeichnen? Gibt es da einen direkten kausalen Zusammenhang?

Schiller: Ja, den gibt es. Der private Sektor - damit meine ich vor allem den zentralen wirtschaftlichen Bereich - drängt energisch und unnachgiebig darauf, daß der öffentliche Sektor zurückgeschraubt wird. So wird es zwar selten formuliert, aber man sagt: Die Regierung sollte sich in diesem oder jenem Bereich nicht betätigen. Das betrifft zum Beispiel den Bereich der Kunst, das Schulwesen, die Bibliotheken, das Gesundheitswesen. Die derzeitige Krise in diesen Sektoren wird verursacht durch die politischen Kräfte, die immer wieder sagen, die Rolle des Staates solle eingeschränkt werden, die Regierung erhalte zuviel Geld in Form von Steuern. Sie machen aus dem ausgeglichenen Haushalt eine Art Heiligtum. Aber ein Haushaltsausgleich, der derart auf Kosten der Bürger geht, ist eine Katastrophe!

SPIEGEL Online: Sie haben Zitate von zwei ehemals führenden Beamten der Clinton-Regierung vorgetragen, die sagten, die USA werden aufgrund ihrer Vorherrschaft in der Informationstechnologie das 21. Jahrhundert beherrschen. Ist das eine realistische Einschätzung?

Schiller: Ich weiß nicht, ob sie realistisch ist. Aber das sind wichtige Stimmen, nicht irgendwelche beliebigen Leute, die einen Artikel schreiben. Während ihrer Amtszeit waren sie zwei der obersten Figuren in der amerikanischen Bürokratie. Sie vertreten eine sehr extreme Ansicht, und ich glaube, sie wird von Clinton geteilt. Andauernd wird so etwas gesagt wie: "Wir werden das 21. Jahrhundert gewinnen." Was genau will man denn gewinnen?

Vergangene Woche hat die Welthandelsorganisation ein Abkommen über den Telekommunikationssektor verabschiedet, das meines Erachtens katastrophale Auswirkungen haben wird: Auf Druck der USA werden in der ganzen Welt weitere öffentliche Systeme demontiert werden. Was sagte die amerikanische Handelsbeauftragte, Charlene Barshefsky, dazu? "Mit diesem Abkommen werden wir das 21. Jahrhundert gewinnen!"

Diese Leute denken also vielleicht vollkommen unrealistisch, aber ihr Ziel ist klar. Und natürlich haben einige dieser Dinge enorme Konsequenzen. Wie groß ist der Anteil der amerikanischen Spielfilme in Deutschland? Sechzig Prozent? Und das Fernsehen, die Nachrichten? Sogar hier im Hotel kann man CNN empfangen. Das sind die vorherrschenden Informationsquellen. Und wenn man sich die Datenbanken anschaut, sind sie zum überwältigenden Teil englischsprachig. Natürlich sprechen viele Menschen hier Englisch, aber darum geht es nicht. Es geht darum, daß inDatenbanken die Landessprache verwendet werden sollte.

SPIEGEL Online: Der englische Wirtschaftswissenschaftler Andrew Graham hat uns das hier auf der Konferenz am Beispiel von Microsofts elektronischer Enzyklopädie "Encarta" illustriert: Wenn man dort das Stichwort "Bürgerkrieg" nachschlägt, wird man lediglich auf Gettysburg verwiesen.

Schiller: Genau. Das Verständnis des Einzelnen für das Wesen und die Inhalte seiner Kultur wird auf diese Weise beeinflußt oder gefärbt. Ich behaupte nicht, daß es von amerikanischer Seite irgendeine bewußte Absicht oder einen Wunsch gibt, alle Menschen wie Amerikaner denken zu lassen. Aber die Tatsache, daß es dieses Monopol oder dieses Beinahe-Monopol an Bildern, Botschaften und symbolischem Material gibt, führt zu solchen Konsequenzen, egal ob jemand diesen Wunsch oder diese Absicht hat. Und wie wir an den Zitaten, die ich vorgetragen habe, sehen können, haben einige Menschen tatsächlich solche Absichten.

Ich weiß nicht, wie weit das gehen wird. Vielleicht wird es Gegenbewegungen geben. Was wir dazu benötigen, sind jedoch nicht technische Lösungen, sondern Menschen. Wenn einige Einzelpersonen versuchen, etwas zu unternehmen, ist das wunderbar. Aber letztlich bedarf es groß angelegter, weiträumiger politischer Bewegungen. Und im Augenblick gibt es so etwas in den Vereinigten Staaten nicht. In Europa ist wenigstens eine Basis dafür vorhanden - die Gewerkschaften zum Beispiel. In unserem Land sind die Gewerkschaften auf einen winzigen Bruchteil der gesamten Arbeiterschaft zusammengeschrumpft. Neuerdings versucht man, sie wieder in Gang zu bekommen. Vielleicht wird das sogar gelingen.

SPIEGEL Online: Herr Professor Schiller, vielen Dank für das Interview.

Das Interview führte Lorenz Lorenz-Meyer

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